Vereinigte Staaten von Europa - yes we can

Samstag, 19. November 2011

 

Als die deutsche Ministerin Ursula von der Leyen im Sommer dieses Jahres im SPIEGEL wissen ließ, ihr Ziel seien die „Vereinigten Staaten von Europa - nach dem Muster der föderalen Staaten Schweiz, Deutschland oder USA", ging ein Kopfschütteln durch die Medien ob der scheinbaren Weltfremdheit dieser Meinungsäußerung. Tatsächlich ist Kopfschütteln angebracht ob der Geschichtsvergessenheit weiter Teile der öffentlichen Meinung in Deutschland - und vielleicht auch ob einer Ministerin, die zumindest den Eindruck erweckt, es sei ihr jetzt eine neue Idee gekommen.

Immerhin scheint es so, als wäre angesichts der Eskalation in der Griechenlandkrise die Bundesregierung inzwischen aufgewacht und bereit, offensiver und unmissverständlicher als bisher für eine Politische Union in Europa einzutreten. Dennoch überwiegt auch bei den Befürwortern einer solchen Union die wolkige Rede von „mehr Europa". Hingegen herrscht bei denen, die auch das ablehnen, der fröhliche Optimismus vor, dass doch nach einem halben Jahrhundert Frieden und guter Nachbarschaft in Europa auch ein „weniger an Europa" keine ernsthaften Risiken für Frieden, Freiheit und Wohlstand nach sich ziehen würden.
Welch eine Einfalt. Die gleiche Einfalt, die vor 100 Jahren, im Jahr 1911, wohl den allermeisten Deutschen nach 40 Jahren Frieden die Katastrophe des 1914 Jahre ausbrechenden Ersten Weltkriegs als gänzlich unvorstellbar erscheinen ließ. Oder die kaum einen Beobachter vor 20 Jahren hätte glauben lassen, dass Jugoslawien in einem blutigen Bürgerkrieg auseinanderbrechen würde. Und wie viel Glück gehörte dazu, dass der Zerfall der DDR (wer konnte ihn sich 1988 wirklich vorstellen?) nicht in einem Blutbad endete? Es kann schnell gehen in der Politik, besonders was die Desaster betrifft.
Es gibt in der Öffentlichkeit eine neue antieuropäische Biederlichkeit, die jeden Sinn dafür verloren hat, wie wenig selbstverständlich deren Voraussetzungen, die Gemütlichkeit eines Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand, letztlich sind. Nach 1945 wussten es viele besser. Es war bekanntlich Winston Churchill, der 1946 forderte: „Wir müssen so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa schaffen." Das waren keine leeren Worte. Es war das Gründungsmotiv des Europarates. Als dieser nicht zu eben diesen Vereinigten Staaten von Europa wurde, begann der europäische Integrationsprozess, der zur heutigen EU geführt hat - und zwar mit der Montanunion, die die damals kriegswichtigen Industrien der nationalen Souveränität entzog. Seit über 60 Jahren basiert die europäische Integration auf der Überzeugung, dass die Zeiten der souveränen Nationalstaaten in Europa vorbei sind und dass an deren Stelle eine supranationale politische Ordnung treten muss.
Das, was der neuen politischen Biederlichkeit als selbstverständlich erscheint, ja geradezu als natürlich - dass Staaten auf „Nationen" im Sinne von kultureller, sprachlicher und womöglich „ethnischer" Gemeinsamkeit gegründet sein sollen -, ist in der (cum grano salis) 2500 Jahre währenden „europäischen Geschichte" ein Sonderfall. Dieser Sonderfall hat mit den Weltkriegen zum mörderischsten Desaster in diesen 2500 Jahren geführt. Als das Römische Reich, die politische Ordnung des spätantiken Europa, auseinanderbrach, erlitt Mitteleuropa über drei Jahrhunderte hinweg einen heute kaum mehr vorstellbaren Zivilisationsverfall. Nicht umsonst stand deshalb auf dem Siegelring Karls des Großen im Jahr 800 das Motto „Renovatio Imperii Romanum" - Erneuerung des Römischen Reiches. Dieses neue „Römische Reich" hatte bis 1806 Bestand. Auch wenn es keinen Grund gibt, angesichts von dessen innerer Verfassung in Nostalgie zu verfallen - die Vorstellung von einer gemeinsamen politischen Identität Europas hatte es bewahrt. Als diese vom Nationalismus ersetzt wurde, entwickelten sich nach und nach die mentalen Voraussetzungen für die politischen Katastrophen im 20. Jahrhundert. Die Konsequenz aus diesen Katastrophen war die Idee der Vereinigten Staaten von Europa.

Hegel hätte wohl gesagt, es ist die List der Vernunft, dass durch eine fulminante ökonomische Krise die europäischen Staaten den Primat der Politik bei der Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse nur zurückgewinnen können, wenn sie sich politisch zusammenschließen - eben zu den Vereinigten Staaten von Europa, unter welcher Bezeichnung auch immer. Ob dies alle 27 EU-Mitgliedsstaaten sein werden oder vorerst nur die 17 Staaten des Euro-Raums, wie in der vergangenen Woche der frühere deutsche Außenminister Fischer in der ZEIT vorgeschlagen hat, ist demgegenüber schon beinahe zweitrangig.
Nicht zweitrangig aber ist die Frage, wie lange die Intellektuellen und die Gebildeten in Deutschland und Europa noch überwiegend schweigend zusehen, wie Biederlichkeit gepaart mit Populismus den Geist der europäischen Einigung zerstören. Es wäre an der Zeit für einen intellektuellen Aufstand gegen den antieuropäischen Populismus - und für die Vereinigten Staaten von Europa.

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© Wolfgang Sander