Sonntag, 12. Januar 2014
Seit mehr als einem Jahrzehnt, seit der 2001 erschienenen ersten PISA-Studie, steht die Kompetenzorientierung im Mittelpunkt der Bildungsreform – kompetenzorientierte Standards und Kerncurricula ersetzen traditionelle Lehrpläne, die Berufsausbildung soll ebenso kompetenzorientiert sein wie das Lehrerstudium, Kompetenzförderung soll zur Kernaufgabe der Kindergärten wie der Erwachsenenbildung werden. Die Fachdidaktiken wie auch andere pädagogische Wissenschaften haben diesen Trend zunächst überwiegend unterstützt und aktiv vorangetrieben, erschien doch die Beschreibung gewünschter Lernergebnisse in Form von Kompetenzen als ein gutes Gegenmittel gegen Stoffhuberei und verständnisloses Einpauken für Noten und Prüfungen.
Inzwischen aber macht sich Ernüchterung breit. Die Kompetenzorientierung hat im Zuge ihrer Durchsetzung Transformationsprozesse durchlaufen, die sukzessive ihren Charakter verändern. Was einmal von vielen Befürwortern als didaktische Innovation begrüßt wurde, entwickelt sich zunehmend zur umfassenden Steuerungs- und Kontrollvorstellung für das gesamte Bildungssystem, im Wortsinn von der KITA bis zur Altenarbeit. Wo sich die Vorstellung, alles und jedes zu Lernende ließe sich als Kompetenz beschreiben, mit der Illusion verbindet, dieses zu Lernende sei dann mittels empirischer Bildungsforschung zu messen und „evidenzbasiert" zu steuern, entsteht eine neue pädagogisch-technokratische Ideologie.
Allerdings steht diese Ideologie auf sehr schwachen Füßen. In den meisten institutionellen Bereichen und Fächern ist es mit den Versprechungen einer so verstandenen empirischen Kompetenzforschung nicht weit her. Auch mehr als 10 Jahre nach PISA kann keine Rede davon sein, dass für alle oder auch nur für die meisten Fachgebiete Kompetenzmodelle entwickelt worden wären, die empirisch begründete Graduierungen von Kompetenzen für den gesamten Bereich des fachlichen Lernens beschreiben und damit Kompetenzentwicklung messbar machen würden. Dies liegt nicht an den Bequemlichkeit der Fachdidaktiker. Für die politische Bildung ist 2012 ein solcher Ansatz von Fachdidaktikern, in einem zweiten Buch nach ihrer umstrittenen ersten Publikation von 2011 ein solches Modell vorzulegen, inhaltlich an den Aporien gescheitert, in die der Anspruch von Messbarkeit in Fächern mit so komplexen Zielen wie „politische Mündigkeit" wohl zwangläufig führen muss (vgl. meinen Beitrag in zdg 1/2013, 114 ff.).
Die Anfälligkeit des Bildungssystems und der Bildungspolitik für solche pädagogisch-technokratische Ideologien verweist auf etwas, was fehlt: eine konsensfähige, gut begründete Vorstellung davon, worin der institutionelle Sinn des öffentlichen Bildungswesens heute und in Zukunft bestehen soll – über die Aufbewahrung von Kindern und Jugendlichen, die Vermittlung gewisser Kulturtechniken und die Vergabe von Zertifikaten und Berechtigungen hinaus. Die Frage der PISA-Studien, in welchem Maß Jugendliche in wenigen Fachgebieten über gewisse Basiskompetenzen für das Leben in einer modernen Gesellschaft verfügen, beantwortet noch nicht die Frage, was eigentlich der gemeinsame Sinn des Lernens von Mathematik und Englisch, Deutsch und Musik, Politik und Religion, Geschichte und Kunst in der Schule sein soll. Die Antwort, hier sollten überall Kompetenzen vermittelt werden, erweist sich inzwischen als hohl.
Dies spricht nicht dagegen, dass etwa die Schule Kompetenzen fördern kann und sollte. Aber welche Kompetenzen dies sein sollen, wie sie begründet sind und wie sich Kompetenzförderung zu anderen Aufgaben der Schule verhält – diese Fragen verlangen ein Gesamtkonzept vom Sinn der Schule, für das im Deutschen der Begriff der „Bildung" steht. Was nach der Kompetenzorientierung tatsächlich kommen wird, lässt sich nicht sagen; was notwendig wäre, aber schon: eine bildungstheoretische Wende in den pädagogischen Wissenschaften.