Politische Bildung nach der "Zeitenwende"

Donnerstag, 16.2.2023*

 

Der Angriff Russlands auf die Ukraine erschüttert etablierte Gewissheiten, wirbelt alte Fronten im politischen Diskurs durcheinander und wirft neue grundsätzliche Fragen des politischen Selbstverständnisses auf, und dies nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen westlichen Europa. Die politische Bildung in der Schule steht nach der von Bundeskanzler Scholz markierten „Zeitenwende“ vor der Herausforderung, nicht nur ihr Themenspektrum um einen aktuellen Konflikt zu erweitern, sondern auch bestimmte inhaltliche Gewichtungen und normative Orientierungen, die in den letzten Jahren im Fach zunehmende Resonanz gefunden haben, infrage zu stellen. Lerninhalte wie die Entwicklungen in Osteuropa und Russland oder geo- und militärstrategische Fragen sind dagegen vernachlässigt worden. 

 

Was die inhaltlichen Gewichtungen angeht, ist die politische Bildung durch die Verbreitung identitätspolitischer Denkweisen in sozialen Bewegungen sowie in Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften in jüngster Zeit in die Gefahr geraten, in die Falle des Tocqueville’schen Paradoxons zu gelangen. Tocqueville formulierte dieses Paradoxon 1840 mit Blick auf seine Erfahrungen in den jungen Vereinigten Staaten so: „Der Hass, den die Menschen gegenüber Privilegien empfinden, wächst im Verhältnis zur Abnahme dieser Privilegien, sodass die demokratischen Leidenschaften am heftigsten zu lodern scheinen, wenn sie am wenigsten Brennmaterial haben.“ Dieser „Hass“, der mit der tatsächlichen Abnahme von Benachteiligungen zuzunehmen scheint, hat sich in westlichen Öffentlichkeiten an immer neuen Feldern festgemacht, von der Gleichberechtigung der Geschlechter, der rechtlichen und faktischen Akzeptanz sexueller Minderheiten, dem Umgang mit Zuwanderern in der zweiten oder dritten Generation bis zu religiöser Vielfalt. Je liberaler beispielsweise die deutsche Gesellschaft faktisch geworden ist, desto schriller und in ihrer Konstruktion immer neuer Opfergruppen auch wirklichkeitsfremder fallen die Kritik an vorgeblichen Privilegien und die Behauptungen struktureller Benachteiligungen durch identitätspolitische Akteure aus. Dies führt mittlerweile bis zu Konzepten wie „Adultismus“, mit dem Machtungleichheit zwischen Kindern und Erwachsenen als Diskriminierungsform bezeichnet wird, obwohl diese Ungleichheit doch Bedingung jeder Erziehung ist.

 

Oft ist inzwischen auf den quasireligiösen Charakter dieser Wokeness-Bewegung hingewiesen worden, die das Ziel der Erlösung von jeder Form von Ungerechtigkeit verfolgt und dafür immer neue Aufhänger sucht. Je größer die Zahl der Geschlechter und der sexuellen Orientierungen wird, desto größer erscheint auch das Ausmaß sexueller Diskriminierungsmöglichkeiten, sei die Gruppe potentiell Betroffener auch noch so klein. Und je weiter sich der Rassismusbegriff von der Bezeichnung für Diskriminierungen aufgrund erblicher körperlicher Merkmale wie Hautfarbe entfernt und jede Skepsis gegenüber anderen Religionen oder jede wertende Unterscheidung zwischen kulturellen Praktiken als rassistisch versteht, desto mehr Rassismus wird sich finden lassen.

 

Die politische Bildung ist von dieser Entwicklung nicht verschont geblieben. Auch von ihr wird inzwischen gefordert, sie müsse „diskriminierungskritisch“, „gendergerecht“ und „dekolonial“ sein. Nun ist es zwar durchaus richtig, dass soziale Ungleichheiten, Geschlechterforschung und Kolonialgeschichte legitime Gegenstandsfelder des Faches sind. Aber es ist etwas anderes, ob solche Gegenstände kontrovers und ergebnisoffen zur Diskussion stehen oder ob mit Adjektiven wie den zitierten die Identifikation der politischen Bildung mit bestimmten Akteursgruppen und deren Ideologie intendiert wird. Zu welchen Verzerrungen solche Bestrebungen führen können, zeigt sich derzeit am Themenfeld Kolonialismus: Es hat etwas Skurriles, wenn 50 bis 100 Jahre nach dem Ende der europäischen Kolonialpolitik in großer Breite auch in der politischen Bildung über Ent- und Dekolonisierung diskutiert wird, die konkreten Bedrohungen durch neokoloniale, imperiale Bestrebungen einer Großmacht in Europa selbst aber praktisch gänzlich ignoriert wurden.

 

Mit Blick auf ihre normativen Orientierungen wird sich politische Bildung stärker als in jüngster Zeit der alten Frage widmen müssen, was freie Gesellschaften zusammenhalten kann. In unserem konkreten historischen Kontext verbindet sich damit die Frage nach der europäischen Identität. Keinesfalls lassen sich diese Fragen überzeugend mit einer Liste abstrakter Begriffe als vorgeblich „europäische Werte“ oder mit dem Verweis auf Vielfalt als Leitbild beantworten. Denn wenn nach Hannah Arendt Vielfalt eine Bedingung jeder Politik ist, kann sie nicht zugleich normatives Ziel von Politik sein. Weil Menschen seit jeher verschieden sind, weil sie verschiedene Vorstellungen und Interessen ausbilden, bedarf es politischer Regelungen. Wie viel und welche Art von Vielfalt zugelassen oder eingeschränkt werden soll, war und ist dann häufig auch Gegenstand politischer Konflikte, aber schon deshalb ist Vielfalt als solches ein normativ leerer Begriff.

 

Um den viel strapazierten Begriff der „europäischen Werte“ ist es nicht besser bestellt. Wer sich entsprechende Wertelisten anschaut, beispielsweise in Artikel 2 des EU-Vertrags von Lissabon, stößt auf ein Sammelsurium von Begriffen unterschiedlicher Art und Reichweite, deren innerer Zusammenhang unklar bleibt – von Freiheit bis Nichtdiskriminierung, von Gleichheit bis Gerechtigkeit, von Rechtsstaatlichkeit bis Toleranz, von Pluralismus bis Solidarität und weitere mehr. Leider führt dann die Berufung als solche Werte allzu leicht zu einer gesinnungsethischen Moralisierung politischer Fragen.

 

In der deutschen politischen Bildung der vergangenen Jahrzehnte gilt die zu fördernde politische Mündigkeit der Adressaten als zentrale normative Referenz. Zumeist wird in diesem Kontext auf Kants berühmte Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ verwiesen. Daran ist auch nach der „Zeitenwende“ nichts falsch. Aber es stellen sich neue Fragen und alte Fragen neu, die politische Bildung zur Neujustierung ihres Aufgabenverständnisses drängen. Es sind Fragen wie die nach dem Verhältnis von individueller Mündigkeit und dem Respekt für öffentliche Institutionen, in ihnen tätige Amtsträger und legitime Autoritäten anderer Art, zum Beispiel Ärzte, Feuerwehrleute und Lehrer; oder die Frage nach einer Rahmung politischer Mündigkeit durch eine reflektierte Bildungsidee, die Selbstbestimmung und Integration in eine konkrete Kultur und Gesellschaft zusammen denkt; schließlich die Frage nach jenen Konturen der europäischen Geistesgeschichte, die – schon lange vor der Moderne beginnend mit dem frühen Christentum – die Vorstellung vom Menschen als einem mündigen und selbstverantwortlichen Individuum überhaupt erst hervorgebracht haben.

 

Politische Bildung braucht nach der „Zeitenwende“ eine komplexere und historisch tieferreichende Begründung für ihren Beitrag zur allgemeinen Bildung. Dafür muss sie sich aus der Sackgasse des Tocqueville’schen Paradoxons befreien, Instrumentalisierungsversuchen durch Aktivisten der Wokeness- Bewegung widerstehen und sich mit einer neuen Ernsthaftigkeit fundamentalen politischen Fragen unserer Zeit zuwenden. Es sind Themen wie die Zukunft der europäischen Einigung und die Suche nach der gemeinsamen europäischen Identität; das Verhältnis der Europäischen Union zu Russland sowie zu den außereuropäischen Partnern, die künftige Verteidigungspolitik, inklusive des Zivilschutzes, aber auch die Suche nach möglichen Korridoren für künftige Abrüstungsinitiativen; die Zukunft der Globalisierung und die Entwicklung neuer globaler wirtschaftlicher und politischer Strukturen. Es sind auch die Perspektiven der Klimaschutzpolitik sowie deren Wechselbeziehungen und Spannungen zu anderen Politikfeldern; nicht zuletzt auch die bessere Vorbereitung der europäischen Gesellschaften auf mögliche künftige Krisen in diesen und weiteren Bereichen.

 

Menschen hierüber ins Gespräch zu bringen, ihnen Verstehen, neue Perspektiven und neues Wissen anzubieten, sie zu selbständigen Urteilen, aber auch zur Mitverantwortung bei der Bewältigung solcher Fragen zu ermutigen und zu befähigen wäre nicht nur ein Beitrag zur persönlichen Bildung dieser Menschen. Es wäre auch ein kleiner, aber wichtiger Beitrag zur Resilienz Deutschlands und Europas angesichts neuer Bedrohungen und Gefahren.

 

 

*Der vorstehende Text ist unter der Überschrift "Den Akivisten jedweder Ideologie widerstehen" erstmals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.8.2022 erschienen.

 

 

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© Wolfgang Sander