Mittwoch, 25.11.2020
Welche Schwächen offenbart die Corona-Krise in unseren Schulen? Die Diskussion über diese Frage ist von zwei Argumentationslinien geprägt. Die erste zielt auf Online-Unterricht bei Schließung der Schulen. Für diesen Fall wird die trotz aller inzwischen getätigten Investitionen noch immer unzureichende Ausstattung vieler Schulen mit digitaler Technik moniert. Zudem mangele es an der Qualifikation vieler Lehrer im Umgang mit dieser Technik, überdies an didaktischen Konzepten für den Online-Unterricht. Die zweite Argumentation geht davon aus, dass Schulschließungen um beinahe jeden Preis vermieden werden müssen, weil es zum Präsenzunterricht keine pädagogische und bildungspolitisch verantwortbare Alternative gebe. Allerdings fällt dann sofort die unter Hygieneaspekten unzureichende Ausstattung der Schulen ins Auge: zu viele Menschen auf zu wenig Platz, keine pandemietauglichen Klimaanlagen oder keine Möglichkeit zu ausreichendem Lüften und falls doch, könnte es im Winter zu kalt werden für den üblichen Klassenunterricht.
Beide Argumentationen greifen jedoch zu kurz. Sie gehen von einem bestimmten Verständnis von schulischer Normalität aus, ob online oder offline, und lassen sich zu wenig auf das ein, wozu die Corona-Krise doch in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens drängt, wenn sie nicht nur überstanden, sondern produktiv gewendet werden soll: jene eingeschliffenen Selbstverständlichkeiten, die auch vor der Krise schon problematisch waren, in Frage zu stellen.
Wo gibt es in den Schulen solche schon lange problematischen Selbstverständlichkeiten? Johann Amos Comenius entwickelte 1628 in seiner Didactica Magna die Vision einer Schule für alle Kinder, deren Aufgabe es sei, „alle Menschen alles zu lehren“. Aber wie sollte das möglich sein für eine unabsehbar große Zahl von Kindern, zumal wenn man bis dahin gewohnt war, Lehren und Lernen im Grunde als ein Meister-Schüler-Verhältnis zu denken? Comenius‘ Antwort war revolutionär: die Erfindung eines systematisch strukturierten Frontalunterrichts, in dem der Lehrer Zeit, Stoff und Methode so anordnet, dass er damit den von der Natur aus vorgegebenen Entwicklungsschritten junger Menschen folgt. Dann, so Comenius, „ist es nicht schwerer, eine beliebig große Schülerzahl alles zu lehren, als mit Hilfe der Werkzeuge, über welche die Buchdruckerkunst verfügt, täglich tausend Bogen mit zierlicher Schrift zu bedecken (...) Alles wird ebenso leicht und bequem gehen wie die Uhr, wenn sie von ihrem Gewicht richtig reguliert wird“.
Als sich im 19. Jahrhundert die Schulpflicht in der Praxis durchsetzte, wurden zusätzlich Anleihen am Modell der industriellen Arbeit gemacht: An einem gesonderten ‚Herstellungsort‘ (Schulgebäude) sollte in festen Gruppen (Klassen) und Zeittakten (Schuljahre, Unterrichtsstunden) auf arbeitsteilige Weise (Fächer) das notwendige Material (Stoff) verarbeitet werden.
Trotz aller Innovationen und Modernisierungen in der Folgezeit prägt dieses Grundmuster noch immer die institutionelle Form der modernen Schule. Aber es hatte von Beginn an einen systematischen Fehler: die Unterstellung einer so einheitlichen und von der Natur vorgegebenen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, dass am besten alle zur gleichen Zeit in gleicher Weise unterrichtet werden. Wie sehen heute deutlicher als Comenius dies konnte, dass diese Vorstellung aus unterschiedlichen Gründen, biologischen wie gesellschaftlichen, problematisch ist.
Die Coronakrise stößt das Schulsystem nun auf recht drastische Weise auf die Problematik solcher scheinbaren Selbstverständlichkeiten: Offenkundig ist die schlichte Fortsetzung des Präsenzunterrichts in seinen gewohnten Formen unter gesundheitlichen Aspekten eine riskante Angelegenheit. Ebenso offenkundig sind alle Beteiligten – Lehrer, Schüler, Eltern – damit überfordert, den gewohnten Fachunterricht einfach in ein Online-Format zu transformieren und die Jugendlichen zuhause lernen zu lassen.
Zweierlei zeigt sich in dieser Krise in aller Deutlichkeit: Erstens mangelt es in vielen Schulen an einer geklärten und hinreichend konsensuellen Vorstellung darüber, was sie unter ‚Bildung‘ verstehen, worin also ihr Bildungsauftrag als Institution jenseits von Lehrplänen, Prüfungen und Zertifikaten heute bestehen soll. Denn erst von einem solchen Bildungsverständnis aus ließen sich Kriterien für die Beurteilung des Sinns oder Unsinns alternativer Lernangebote, insbesondere auch in digitaler Form, entwickeln. Zweitens zeigt sich, dass das Standardmodell der Organisation schulischen Lehrens und Lernens extrem unflexibel ist. Zugleich ist es so kompliziert, dass große Schulen Mühe haben, ihre Stundenpläne ohne Computerunterstützung zu erstellen.
Was wäre aus dieser Krise zu lernen? Erstens ist eine breitere Grundsatzdebatte in Schulen, Öffentlichkeit und Schulpolitik über die Frage, was Bildung heute heißen kann und was Schulen vor diesem Hintergrund leisten können und was nicht, überfällig. Der Mangel an gehaltvollen Konzepten und Ideen, der beispielsweise die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz in dieser Hinsicht auszeichnet und der zuletzt in deren technokratischem Umgang mit den Herausforderungen der Digitalisierung sichtbar wurde, ist schon seit Langem ein Ärgernis.
Zweitens muss die innere institutionelle Monotonie schulischer Lernangebote ein Ende haben. Gewiss veranstalten viele Schulen eine jährliche ‚Projektwoche‘ und bieten freiwillige Arbeitsgemeinschaften oder als Ganztagsschulen andere Freizeitgestaltungen an. Aber das sind hübsche Ergänzungen, nice to have, von denen aber alle Beteiligten wissen, dass sie für den am Ende zählenden Notendurchschnitt keine wirkliche Relevanz haben. Zweifellos wird es weiterhin kontinuierlichen Fachunterricht geben müssen. Seine unersetzbare Aufgabe besteht unter dem Aspekt der Bildung darin, die Perspektivität fachlichen Denkens und deren Unterschiedlichkeit zwischen den Fächern zu erschließen. Aber es könnte durchaus sinnvoll sein, ein Fach nicht einfach als Band durch die Schuljahre laufen zu lassen, sondern es in Kurse mit thematischen Schwerpunkten (zum Beispiel Geometrie, Optik, Antike, Demokratie) oder in Stufen (Englisch I) zu unterteilen; dies kann bessere Fördermöglichkeiten bieten, wenn Schülern mit bestimmten Schwächen gezielt zusätzliche Kurse empfohlen werden oder in höheren Klassen unter Umständen in einem Fach auch verschiedene thematische Kurse zur Wahl gestellt werden können.
Schule braucht also Fachunterricht, aber eben nicht nur. Eine zweite Großform schulischen Lernens sollten Projekte sein, und zwar gerade nicht in der Mikroform von Projektwochen, sondern als Bestandteil des schulischen Alltags. Projekte sind kooperative Arbeitsformen, mit denen ein bestimmtes Problem gelöst und/oder ein konkretes Produkt hergestellt werden soll. Häufig werden sie fächerübergreifend angelegt sein; ihre inhaltliche Logik ergibt sich aus dem jeweiligen Problem oder zu realisierenden Produkt, nicht aus einer disziplinären Systematik. Ihr Schwerpunkt bei der Förderung von Bildung liegt im Erfordernis komplexen Denkens und ihrem Handlungsbezug. Projekte benötigen kompakte Zeitformen, also nicht wie ein Kurs eine der zwei Stunden in der Woche, sondern zwei, drei oder auch mehr Tage im Block. Sie sind prädestiniert für die Arbeit in kleinen Gruppen und erfordern von Schülern die Fähigkeit dazu, die regelmäßig geübt und gefördert werden muss.
Eine dritte, in den meisten Schulen völlig vernachlässigte oder in den Bereich der Hausaufgaben gewissermaßen ausgelagerte Großform schulischen Lernens ist das Selbststudium. Es ist im Grunde ein Kuriosum, das man so selten in Schulen Schüler in einer ruhigen Ecke (und nicht als Teil des Fachunterrichts im Klassenraum) konzentriert etwas tun sieht, also zum Beispiel etwas lesen oder schreiben. Der Zusammenhang zu Bildung liegt auf der Hand: Am Ende ist Bildung immer Selbst-Bildung, auch in anderen Formaten des Lehrens und Lernens, aber ganz ohne die konzentrierte Beschäftigung mit einer Sache ganz für sich allein ist der Prozess der Bildung schwer vorstellbar.
Weitere Formen wie Arbeitsgemeinschaften, Exkursionen und Reisen mögen hinzukommen.
Schulen, die in dieser Weise arbeiten, werden von Beginn an bemüht sein, die Fähigkeit ihrer Schüler zum selbstständigen Lernen zu fördern, auch und gerade derjenigen, die diese Fähigkeit nicht schon von zuhause mitbringen. Dabei geht es keineswegs nur um methodische Fertigkeiten. Es geht vor allem auch darum, eigene Fragen zu stellen, sich sachbezogen einzubringen und den Mut zum selbständigen Denken zu finden.
Wenn Schulen diese Lektionen aus der Corona-Krise gelernt haben, wird ihr Alltag anders aussehen. Einem Besucher werden an einem normalen Schultag gleichzeitig lehrergeleiteter Unterricht in Klassenräumen, selbstständig an einem Projekt arbeitende Kleingruppen, die von Lehrern lediglich unterstützt werden, und still für sich allein arbeitende Schülerinnen und Schüler begegnen. Manche Schüler werden gar nicht anwesend sein, weil sie mit einem Erkundungsauftrag in der Umgebung unterwegs sind. Solche Schulen werden in einer Pandemie allein schon deshalb krisenfester sein, weil sie ihr Angebot flexibler anpassen können. Vielleicht wird sich der Anteil an fachlichen Kursen in dieser Zeit zugunsten von Projekten mit Arbeit in festen Kleingruppen sowie Aufgaben für Selbststudium verringern, was in der Zeit danach dann ausgeglichen werden kann. Die Zahl der in der Schule anwesenden Personen auf diese Weise für einen begrenzten Zeitraum zu reduzieren, dürfte nicht allzu schwierig sein. Die Möglichkeiten der Digitalisierung werden Schulen mit einem solchen flexibleren Lernangebot gerne nutzen, ohne sich aber gänzlich deren Logiken zu unterwerfen.
Die gute Botschaft ist, dass es in Deutschland Schulen gibt, denen vieles von dem, was hier angesprochen wurde, bereits gut gelingt, auch lange vor der Corona-Krise schon. Manche von ihnen sind sogar staatliche Versuchsschulen, manche werden von Initiativen wie dem Deutschen Schulpreis gefördert. Die weniger gute Nachricht ist, dass es in Deutschland in diesem Bereich an einer Transferkultur mangelt. Es ist möglich, dass eine Schule in einem Bundesland seit Jahrzehnten mit innovativen Konzepten erfolgreich arbeitet, ohne dass größere Anstrengungen des zuständigen Ministeriums erkennbar wären, diese Erfahrungen für die eigene Schulpolitik fruchtbar zu machen. Vielleicht bietet die Corona-Krise einen Anstoß, auch hieran etwas zu ändern.