"Die Digitalisierung sollte sich den Menschen anpassen"

Das nachfolgende Interview mit mir erschien am 3.5.2018 im Gießener Anzeiger:

 

Sie haben einmal den Satz gesagt „Es gibt keine digitale Welt, es gibt keine digitale Bildung“. Wie ist diese Äußerung zu verstehen?
Die Welt ist nicht digital, aber es geht um Digitalisierung als Problemfeld in der Welt. Bildung zu fördern ist eine Aufgabe der Schule, aber sie kann selbst nicht digital sein. Digital ist letzten Endes nur die mathematische Kodierung von Informationen, die von Computern verarbeitet werden.

 

Bildung hat sehr viel mit Erinnerung zu tun: Wie sieht eine durch die Digitalisierung geprägte Erinnerungskultur aus?
Man muss abwarten, ob es eine solche Erinnerungskultur auf lange Sicht überhaupt geben wird. Tatsächlich besteht das Risiko, dass wir eine geschichtslose Zeit werden. Das Problem der Langzeitarchivierung digitaler Daten ist nicht gelöst. Die Speichermedien halten nur etwa 30 Jahre. Die Idee, dieses Problem einfach durch umkopieren zu lösen, ist naiv. Ich nenne als Stichworte nur die ständigen Veränderungen bei Geräten und Software oder Kopierfehler. Kurz gesagt: Digitale Daten langfristig erhalten zu wollen, ist wenig realistisch.

 

Was sind Kernpunkte einer Bildungsidee für unsere Zeit, die Sie überzeugt?
Bildung ist eine sehr alte Idee, ein kulturelles Erbe der Menschheit. Bei Bildung geht es um eine bestimmte Art des Hineinwachsens junger Menschen in die Welt. Bildung ist mehr als die Einpassung in eine bestehende Wirklichkeit. Bildung befähigt zu selbstständigem Denken, Urteilsfähigkeit und verantwortlichem Handeln. Was den Bildungsbegriff in unserer Zeit von dem Bildungsbegriff früherer Zeiten vor allem unterscheidet, ist die globale Perspektive, in der wir Bildung heute denken müssen.

 

Und eine Persönlichkeit zu entwickeln...
Ja, Persönlichkeitsbildung ist ein wichtiger Aspekt von Bildung, und zwar seit jeher!

 

Was bedeutet das mit Blick auf die Digitalisierung?
Es bedeutet, dass Schule ihre Aufgaben im Umgang mit der Digitalisierung vom Bildungsgedanken her bestimmen sollte und nicht von technischen Erfordernissen.

 

Wie meinen Sie das?
Viele haben die Vorstellung, dass Schule in Bezug auf Digitalisierung eine Art nachholende Entwicklung vor sich hat. Damit werden die Aufgaben der Schule von technischen Gegebenheiten her definiert. Aber genau das ist der Fehler. Was wollen Sie heute 14-jährigen Jugendlichen denn technologisch beibringen, das in 20 oder 30 Jahre noch aktuell ist? Die Aufgabe der Schule ist es, von der Idee der Bildung her, jungen Menschen dabei zu helfen, ein reflexives Verhältnis zu dem, was ihnen in der Wirklichkeit begegnet, zu bekommen – und damit auch zur Digitalisierung und ihren Folgen.

 

Es gibt die These, dass wir im Umgang mit den neuen Möglichkeiten noch in einer Phase der „mentalen Pubertät“ leben. Teilen Sie diese Einschätzung?
Was mich an dieser Einschätzung stört, ist die Idee, dass sich die Menschen der Digitalisierung anpassen müssten. Ich würde lieber die Digitalisierung den Menschen anpassen. Ich würde fragen, ob die Digitalisierung selbst erst in der pubertären Phase steckt, wie ausgereift diese Technologie also wirklich ist. Wir haben uns daran gewöhnt, dass elektronischen Geräte permanent Updates von uns wollen. Was würden wir sagen, wenn unser Kühlschrank ständig ein Update bräuchte und wenn er uns nach dem zehnten Update mitteilen würde, dass er mit der aktuellen Software nun leider nicht mehr kompatibel ist?

 

Wissen wir schon genug über Soziale Medien und die Auswirkungen auf uns, um sie kompetent zu nutzen?
Soziale Medien sind noch zu jung, um langfristige Auswirkungen abschätzen zu können. Es gibt sie erst seit einigen Jahren, das ist ein Wimpernschlag in der Technikgeschichte. Niemand von uns weiß, welche Langzeiteffekte es auf die Generationen hat, die mit sozialen Medien aufwachsen. Die Kurzzeiteffekte sind allerdings kritisch. Denken Sie an die Debatten über Fake News, über Hate Speech, über Echokammern, Zerfall von Öffentlichkeit und Veränderungen des Sozialverhaltens.

 

Und die langfristigen Folgen? Welches Szenario könnten Sie sich vorstellen?
Niemand weiß, wie zum Beispiel Facebook in zehn Jahren aussieht, ob es überhaupt noch existiert. Das macht es so schwer, von langfristigen Einschätzungen zu sprechen, ohne nur zu spekulieren.

 

Wie sieht echte Medienkompetenz aus? Wie erlangen wir sie?
Ich habe kürzlich einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel „Von der Medienkompetenz zur Medienkritik“. Das ist natürlich zugespitzt formuliert, denn auch ich möchte keine medieninkompetenten Bürger. Aber bei dem Begriff Medienkompetenz denkt man schnell nur daran, diese Medien kompetent nutzen zu können. Das ist jedoch mit Blick auf Bildung zu kurz gedacht. Wenn Sie an heutige Jugendliche denken: Den schieren Umgang, das Bedienen der Geräte, muss ihnen die Schule nicht beibringen.

 

Also die Bedienkompetenz ...
Ja. Es muss dagegen darum gehen, dass sich junge Menschen bildend damit auseinandersetzen, wie das, was wir Digitalisierung nennen, die Wirklichkeit beeinflusst und verändert. Und darüber nachdenken, was daran gestaltet werden und wie es gestaltet werden kann.

 

Das meinen Sie mit dem Begriff „Medienkritik“?
Ja. Er ist also gar nicht negativ gemeint im Sinne von Ablehnung. Sondern es geht um Reflexion. Es kann ja nicht die Aufgabe der Schule sein, die Alltagswelt von Jugendlichen bloß zu verdoppeln. Ihnen beizubringen zu wollen, was sie mit Smartphones machen können, ist überflüssig. Eher muss es um die Frage gehen: Was macht diese Technologie mit mir? Vor allem aber auch: Was hat sie für ökonomische, gesellschaftliche und politische Hintergründe und Folgen?

 

Die Kritik an den aktuellen Bildungsprogrammen lautet: Kleinteilige Didaktik- und Medienkompetenz-Programme, die den Herausforderungen nicht annähernd gerecht würden. Ist das zu hart?
Diese Kritik würde ich schon teilen. Tatsächlich ist die Politik häufig von einen Habitus des Getriebenseins geprägt: Wir müssten nun aber ganz schnell dieses und jenes nachholen. Es wäre aber wohl klüger, sich erst einmal gedanklich daneben zu stellen und sich zu fragen, was es eigentlich für Bildung bedeutet, wenn Jugendliche heute in einer solch medial geprägten Umwelt aufwachsen. Ein Beispiel: Die Kultusministerkonferenz hat 2016 eine Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ beschlossen. Darin werden 61 Kompetenzen aufgelistet, von denen man bei gutem Willen vielleicht fünf oder sechs im Sinne eines kritischen Nachdenkens über die Digitalisierung verstehen kann. Die anderen beziehen sich auf die Handhabung der Technik. Eine dieser Kompetenzen heißt „Sicherheitseinstellungen ständig aktualisieren“. Das schadet zwar nicht. Aber interessanter wäre die Frage: Wie kommt es, dass wir Sicherheitseinstellungen aktualisieren müssen, und wie riskant ist eine solche Technologie?

 

Sie sagen, wir brauchen einen Blickwechsel in der politischen Bildung. Wie muss dieser Blickwechsel aussehen?
Vor zehn oder 15 Jahren haben wir uns in der politischen Bildung zunächst dafür interessiert, was man im Unterricht mit digitalen Medien Neues und Interessantes machen kann. Da gibt es ja auch einiges: Schüler können mit Leichtigkeit Videos drehen, sie können eigene Publikationsprojekte erstellen. Blickwechsel heißt: Wir müssen uns in der Schule mit der Frage befassen, was Digitalisierung als gesellschaftliches Problemfeld bedeutet. Dann würden wir nicht einfach sagen: Wunderbar, dass nun alle publizieren können. Sondern wir würden fragen, wohin es gesellschaftlich und politisch führt, wenn das alle können.

 

Lehrer müssen Kindern eine Welt verständlich machen, von der wir nicht wissen, wie sie einmal aussehen wird. Was müssen Lehrer dafür leisten?
Das ist seit jeher die Aufgabe von Lehrern. Die Schule macht sich, wenn sie klug vorgeht, mit ihren Bildungsangeboten nicht in erster Linie von Tagesaktualitäten abhängig. Sie fragt nach Grundproblemen des menschlichen Zusammenlebens. Mit Blick auf die Digitalisierung wären das zum Beispiel Fragen wie die nach dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheitsverlust durch Überwachungstechnologien oder die nach Risiken für Wirtschaft und Infrastruktur durch Hackerangriffe.

 

Müssen Schulen in Zukunft auch Journalismus lehren?
Ein wichtiger Punkt ist zumindest, die Seriosität von Quellen beurteilen zu lernen. Warum ist es bei politischen Informationen ein Unterschied, wenn etwas „bei Facebook steht“ oder auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung? Man muss zudem ein Verständnis dafür entwickeln, wie etwa Anbieter von Suchmaschinen ihre Algorithmen gestalten. In einer Schulklasse kann man herausfinden, dass gleiche Suchanfragen bei verschiedenen Nutzern nicht zu gleichen Ergebnissen führen müssen, weil die Antworten personalisiert sind.

 

Brauchen wir ein neues Fach Medienkunde?
Nein. Erstens deshalb nicht, weil es Fächer gibt, die diese Aufgabe übernehmen können – Politik und Wirtschaft vor allem, aber auch Deutsch, Kunst und Geschichte. Zweitens, weil es eine verbreitere schlechte Angewohnheit in der Öffentlichkeit ist, bei neuen Problemen schnell ein neues Schulfach zu fordern. Die Schule ist aber nicht die Feuerwehr der Gesellschaft.

 

Was halten Sie von der Idee einer „redaktionellen Gesellschaft“?
Ich wäre schon zufrieden, wenn die jungen Menschen, die wir durch Schule in die Gesellschaft einführen, selbstständig denken lernen, Verhältnisse selbstreflexiv beurteilen können und wissen, wie man sich dafür sinnvoll informieren kann. Wenn sie dann auch noch in der Lage sind, in einer geeigneten Form ihre eigenen politischen Positionen öffentlich zu vertreten, dann ist schon sehr viel erreicht.

 

Das Interview führten Annekatrin Bertram und Frank Kaminski.

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© Wolfgang Sander