Montag, 6. September 2010
Ein Buch wird in Deutschland zur Staatsaffäre – lächerlich und notwendig zugleich. Die Debatte über Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab" ist verquer wie manche Debatte in den letzten
Jahren und doch könnte sie zum Katalysator für eine ganz andere, dringend notwendige Auseinandersetzung werden: eine Auseinandersetzung über das Verhältnis von professionellen Politikern (der
„politischen Klasse") zu relevanten Teilen der Bevölkerung sowie über eine „Medienklasse", die sich linksliberal gibt, aber dann mit dieser Brille immer neu jene Skandale erzeugt, von deren
Vermarktung sie lebt.
Hier soll es nicht in erster Linie um Sarrazins Buch gehen, sondern um den veröffentlichten Diskurs darüber. Offensichtlich ist es politisch korrekt, über Sarrazin den Stab zu brechen; aber bitte vor
möglichst großem Publikum, das die Quote hochtreibt. Dass dieses Publikum mit großer Mehrheit, ausweislich eingehender Mails und Anrufe, gar nicht gewillt ist, den Stab zu brechen, löst allenfalls
leichte Verwirrung aus. Ein Tiefpunkt dieser Inszenierung war die Talkshow von Reinhold Beckmann in der ARD zum Thema vor einigen Tagen: Der Anlass der Debatte, Thilo Sarrazin, war zwar eingeladen,
aber mit der offenkundigen Absicht, ihn vorzuführen und bloßzustellen. Konfrontiert mit vier Kritikern und einem tendenziösen, geschwätzigen und besserwisserischen Moderator wurde dem Hauptgast die
Rolle des Bösewichts zugewiesen, der lediglich die Illustration für den behaupteten Skandal liefern sollte. Ernsthaftes Interesse an dem, was er zu sagen hat? Keine Spur. Seriöse, auf gründlicher
Beschäftigung und hinreichender Sachkenntnis basierende Kritik? Noch weniger. Die Rolle des „wissenschaftlichen Experten", der sich zu Sarrazins (in der Tat abwegigem) Biologismus äußern sollte,
übernahm ein Wissenschaftsjournalist der ARD – ein so schönes wie absurdes Beispiel dafür, wie die heruntergekommene TV-Kultur als Prominenz das definiert, was sie selbst hervorbringt. Eine ganz
einfache Alternative stellte sich für diese Art von Journalismus offenbar nicht mehr: die Frage, ob Sarrazins Buch einer ernsthaften öffentlichen Debatte würdig ist (dann müsste sie als solche auch
geführt werden) oder ob es das nicht ist (dann darf es auch keine Einladungen an den Autor und keine Talkshows über sein Buch geben).
Längst ist in allzu vielen Medienbeiträgen das professionelle Selbstbild des Journalisten als eines zwar kritischen, aber seriösen, nicht den eigenen politischen Interessen, sondern dem Publikum
verpflichteten Berichterstatters dem eines politischen Moralwächters gewichen, der auf der Grundlage einer imaginierten Political-correctness-Skala alles be- und vor allem verurteilen zu können
glaubt. Es wäre zu wünschen, dass lächerliche (Selbst-)Inszenierungen in den Medien wie die von Beckmann eine notwendige Debatte über die Verwendung von Zwangsgebühren und die Art der politischen
Regulierung der Medienlandschaft anstoßen würden – aber das ist leider (derzeit noch) unwahrscheinlich.
Nicht viel überzeugender ist die Reaktion vieler Vertreter der politischen Klasse auf Sarrazins Buch. Verdammungen zu einem Zeitpunkt, zu dem das Buch noch gar nicht auf dem Markt war, wirken wenig
überzeugend; der unverhohlene Druck der Bundeskanzlerin auf die Bundesbank ist gegenüber der politisch ärgerlichen Meinungsäußerung eines Direktoriumsmitglieds der größere Skandal; die Neigung der
SPD, auf unbequeme Positionen ehemals führender Politiker der Partei (z.B. ehemaliger Ministerpräsidenten in NRW und Bundesminister, ehemaliger Fraktionsvorsitzender in Hessen und nun eines
ehemaligen Berliner Finanzsenators) mit Parteiausschlussverfahren zu antworten, ließe sich als geistiges Pendant einer faktischen Verzwergung der Partei belächeln, wäre es damit nicht zugleich ein
Ausdruck des kulturellen Niedergangs einer großen freiheitlichen Tradition der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland.
Tatsächlich stellt der „Fall Sarrazin" eine Gefahr für die Demokratie dar; aber nicht wegen der Thesen des Autors. Ganz zu Recht schrieb Berthold Kohler in der FAZ, es liege ein Hauch von Rebellion
der Luft angesichts des Gefühls der Bevormundung in Teilen der Bevölkerung, in der halböffentlichen Meinung, die jeder kennt, aber die öffentlich keine Sprache und Anerkennung findet. Eine solche
Rebellion könnte leicht ein hässliches Gesicht bekommen. Aber es geht auch um das Recht auf Meinungsfreiheit und damit um ein Fundament der Demokratie. Ohne Zweifel stellen die Versuche, Sarrazin zu
verunglimpfen, politisch durch Parteiausschluss zu isolieren und beruflich zu schädigen, einen Angriff auf die Meinungsfreiheit dar. Dieses Grundrecht ist allein deshalb notwendig, weil es die
öffentliche Artikulation unbequemer, ärgerlicher und missliebiger, ja selbst dummer Positionen schützt. Für die Äußerung mainstreamkompatibler Meinungen bräuchte es kein Grundrecht. Es ist an der
Zeit, dass gerade diejenigen Demokraten, die mit Sarrazin nicht übereinstimmen, dessen Recht auf Meinungsfreiheit gegen das neue Jakobinertum (Norbert Bolz) verteidigen, das sich im
medial-politischen Komplex breit gemacht hat.