Nach dem Protest - die Universität in der Krise

Montag, 28. Dezember 2009

 

Wenn nicht alles täuscht, wird die Protestwelle an österreichischen und deutschen Hochschulen mit der Weihnachtspause zu Ende gehen. Ihre Kraft hatte sie weitgehend schon vorher verloren – und dies wohl vor allem wegen strategischer Fehler, die die Bewegung viel Sympathie gekostet haben. Um mit diesen Fehlern zu beginnen: Es ist über die Jahrzehnte zu einem wiederkehrenden Ritual geworden, dass studentischer Protest sich in „Vollversammlungen", „Streiks" und Hörsaalbesetzungen Ausdruck verleiht. So rituell die Abläufe dabei sind, so wahrscheinlich ist regelmäßig das letztendliche Scheitern dieser Protestform. Denn was kurzfristig durchaus für öffentliche Aufmerksamkeit sorgen kann, verkehrt längerfristig die politischen Fronten: Es geht, salopp gesagt, von Woche zu Woche mehr denen auf die Nerven, deren Unterstützung oder mindestens Sympathie man braucht, der Mehrheit der Studierenden und den Beschäftigen an Hochschulen. Spätestens wenn es um die Frage der Leistungsnachweise für das laufende Semester geht, pflegt solcher Protest an sein Ende zu kommen. Ihn „auszusitzen", fällt den politisch Verantwortlichen deshalb nicht allzu schwer.
Die Wurzel dieses eigentümlichen Rituals liegt in der Studentenbewegung nach 1968. Die linke Bewegung suchte den Anschluss an die Arbeiterschaft und imitierte deshalb die Kampfform des Streiks. Freilich hatte das eine mit dem anderen schon damals wenig zu tun. Ein gewerkschaftlicher Streik kann bekanntlich nicht auf einer Vollversammlung, die selbst bei hervorragendem Besuch nur eine Minderheit repräsentiert, per Handaufheben beschlossen werden, sondern setzt eine klare Mehrheit aller Gewerkschaftsmitglieder in geheimer Abstimmung voraus. Ein solcher Streik ist mit Lohneinbußen verbunden und er ist nur deshalb eine Waffe, weil er dem Kontrahenten realen Schaden zufügt. Alles das trifft für studentische „Streiks" nicht zu. Auch hat die stellvertretende Entscheidung von aktiven, aber nicht durch Wahlen legitimierten Minderheiten für die gesamte Studentenschaft weder mit „Basisdemokratie" noch überhaupt mit Demokratie zu tun, zumindest wenn sie durch die Blockade von Häusern oder Hörsälen für andere als für die Aktiven bindende Wirkung in Anspruch nehmen will.
Man kann in solchem Vorgehen durchaus einen Mangel an politischer Bildung sehen, etwa an politischer Handlungsfähigkeit und strategischem Denken. Wenn wirre, willkürliche erscheinende und keinesfalls realisierbare Forderungskataloge hinzukommen, verstärkt das diesen Eindruck. Dies ist unabhängig vom konkreten Anlass schon deshalb zu bedauern, weil solcher Mangel die politische Durchsetzungskraft der akademischen Jugend systematisch schwächt, die ja alles andere als eine gesellschaftlich unbedeutende Randgruppe ist. Im konkreten Fall der Proteste des vergangenen Herbstes ist dies noch mehr zu bedauern, weil es in der Tat gute Gründe für sie gab. Neben der chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen ist es die Art und Weise, wie die „Bologna-Erklärung" von 1999 politisch umgesetzt wurde, die schon wesentlich früher einen Sturm des Protest hätte auslösen müssen und dies nicht nur bei den Studierenden.
Dabei enthält, was viel zu wenig bekannt ist, diese „Bologna-Erklärung" selbst wohl kaum etwas, was den Protest rechtfertigt. Einfach und verständlich sollten die Hochschulabschlüsse werden, Hindernisse für die Mobilität der Studierenden, von Wissenschaftlern und Lehrern sollten beseitigt, ein Leistungspunktesystem sollte die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen fördern. Das Studium sollte sich auf zwei „Hauptzyklen" stützen, die aber keineswegs mit Bachelor und Master identisch sein müssen; im Gegenteil ließ die Erklärung ausdrücklich zu, dass der erste Abschluss ein Diplom und der zweite die Promotion sein kann. Von einem Prüfungsmarathon in modularisierten Studiengängen, von „Workload" und Verschulung des Studiums, von einem Bachelor in allen Studienfächern als Erstabschluss, von der Akkreditierung von Studiengängen – von diesen und anderen Elementen des Versuchs, die Hochschulen zu durchbürokratisierten Ausbildungseinrichtungen zu machen, war 1999 überhaupt nicht die Rede. Erst der nachfolgende politische Prozess gab der Reform das Gesicht, das Grund und Anlass für die Proteste in diesem Herbst bot.
Gesteuert wurde diese Reform von der Exekutive. An der demokratischen Legitimation dieses Prozesses, der auf einer bloßen Absprache von Wissenschaftsministern in einem Politikfeld zurückgeht, für das die europäischen politischen Institutionen keine Kompetenz besitzen, lässt sich durchaus zweifeln. Mehr noch offenbart die nachfolgende Umsetzung zumindest in Deutschland ein erschreckendes Maß an Unverständnis der Wissenschaftspolitik für die Eigenlogiken von Wissenschaft und Universitäten. Nicht die angebliche „Ökonomisierung" der Universitäten ist das Kernproblem, sondern der Versuch, sie ihres Eigensinns zu entkleiden und sie als arbeitsteilige Großorganisationen zu verstehen, die Zwecken dienen sollen, die sich über mathematisierbare Indikatoren messen und abrechnen lassen. Aber nicht die Zahl der Promotionen oder die Höhe der eingeworbenen Drittmittel entscheidet über die Güte einer Universität, sondern die Qualität der dabei erzielten inhaltlichen Ergebnisse – und diese entzieht sich schon deshalb der Messbarkeit, weil sie sich erst im Rückblick erweist, nach Jahren, oft nach Jahrzehnten, manchmal auch erst nach Jahrhunderten. Nicht zufällig liegen die wissenschaftlichen Leistungen, für die Nobelpreise verliehen werden, meist Jahrzehnte zurück.
Die jüngsten Reformen, für die „Bologna" mehr Ausrede als Grund ist, drohen die Universitäten auszuhöhlen. Wenn Studieren zum Punktesammeln wird; wenn Drittmittel nicht mehr (nur) da gesucht werden, wo sie für einen autonom gesetzten Forschungszweck notwendig sind, sondern wenn der Forschungszweck sich nach den Chancen für Drittmitteleinwerbung richtet; wenn die „Einzelforschung" in der Geistes- resp. Kulturwissenschaften diffamiert und aus Forschern und Denkern Antrags- und Projektmanager werden; wenn der Professorenberuf seine aus Freiheit und uneingeschränkter Suche nach Erkenntnis erwachsende Aura verliert und zum Typus eines leitenden Angestellten verkommt – dann wird aus der Universität nicht etwa ein erfolgreiches Unternehmen, sondern eine langweilige Großbürokratie. Den Preis wird die Gesellschaft durch den Qualitätsverlust der Wissenschaft zahlen, wenn auch erst nach Jahrzehnten.

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© Wolfgang Sander