"Christentum hat Europa entscheidend geprägt"

Das nachfolgende Interview erschien zuerst in Heft 4/2024 des Magazins PRO (https://issuu.com/promedien/docs/2024_04_pro_issuu). Es stellt die Kurzfassung eines längeren Gesprächs dar, das Jonathan Steinert mit mir geführt hat und das als Podcast veröffentlicht wurde (https://www.pro-medienmagazin.de/warum-europa-zurueck-zu-seinen-christlichen-wurzeln-muss/).

 

PRO: Fast drei Viertel der europäischen Bürger und auch ungefähr so viele Deutsche haben in einer Umfrage vom Ende vorigen Jahres von sich gesagt, dass sie sich teilweise oder voll und ganz als EU-Bürger verstehen. Ist das ein positives Zeichen für das politische Gebilde der EU?

Wolfgang Sander: Prinzipiell schon. Natürlich ist die Frage, was das für die Einzelnen bedeutet. Aber mein Eindruck ist, dass es kaum ernstzunehmende Kräfte gibt, die die Europäische Union am liebsten abschaffen würden. Sogar die meisten rechtspopulistischen Parteien in Europa haben sich von dieser Idee verabschiedet. Es geht eher um die Frage: Wie soll die EU der Zukunft aussehen?

 

Sie meinen das Verhältnis zwischen Nationalstaaten und EU?
Ja, das ist eine der Fragen. Aber das ist nicht wirklich alles. Wir haben in den Erwartungen und Vorstellungen von dem, was es heißt, Europäer zu sein, relativ starke Differenzen – insbesondere zwischen Ost und West in der Europäischen Union.

 

Also da, wo die früheren Systemgrenzen waren.
Genau. In Westeuropa stand im Kern des Aussöhnungsprozesses nach 1945 die deutsch-französische Verständigung und Aussöhnung. Hier war es ein Teil des Friedensprojekts, die Nationalstaaten in ihrer Autonomie einzuschränken. Nach dem deutsch-französischen Krieg im 19. und den beiden Weltkriegen im 20. Jahr- hundert wollte man die Nationalstaaten gewissermaßen bändigen, um ähnliche Katastrophen im künftigen Europa zu verhindern. In Osteuropa war es andersherum: Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die Nationalstaaten unter sowjetische Kontrolle und waren völlig eingebunden in das ökonomische und politische System des Ostblocks. Für sie war nach 1990 der Beitritt zur Europäischen Union eine Garantie ihrer nationalen Selbstständigkeit als Schutz vor einer russischen Einflussnah- me. Es gibt aber auch noch einen kulturellen Unterschied.

 

Welchen?

Die östlichen Gesellschaften sind, vereinfacht gesagt, nationaler, traditioneller und religiöser in ihrem Selbstbild. Sie sind weniger kosmopolitisch und weniger auf Diversität und kulturelle Vielfalt orientiert.

 

In einem Buch argumentieren Sie, dass sich Europa auf seine christlichen Wurzeln besinnen muss. Ist das der geeignete Boden, um diese Verbindung zwischen Ost- und Westeuropa zu schaffen?

Es gibt natürlich auch noch andere gemeinsame Traditionslinien in Europa, insbesondere die antike griechische Philosophie und das römische Rechtsverständnis. Beide sind auch heute noch recht lebendig. Dagegen scheinen die christlichen Wurzeln etwas verschüttet zu sein. Lebendige kollektive Identitäten, also das, was eine Gesellschaft miteinander verbinden kann, entstehen immer aus Erinnerungen und Erzählungen über gemeinsame Erfahrungen. Das Christentum ist über 2.000 Jahre ein ganz entscheidender, prägender Faktor für das, was Europa kulturell verbindet. Man könnte anfangen bei der Zeiteinteilung – den Feiertagen, den Wochentagen, den Festtagen, bei der Jahreszählung vor und nach Christus. Man könnte weitergehen über die Familiennamen, die Bedeutung von Kirchen in der Landschaft als Zentrum von Siedlungen und architektonische Denkmäler. Aber was noch viel wichtiger ist: Elementare Vorstellungen, die in Europa heute geteilt werden, gehen auf christliche Vorstellungen zurück. Insbesondere die Idee der Menschenwürde.

 

Der Begriff kommt in der Bibel gar nicht vor.
Diese Idee wird erst in der Renaissance im 14. Jahrhundert formuliert. Aber sie wird von vornherein begründet mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Bereits im frühen Christentum taucht die Vorstellung auf, dass alle Menschen – egal woher sie kommen, welches Geschlecht, welchen sozialen Stand sie haben – gleichwertig sind. Das ist der Kerngedanke hinter der Menschenwürde. Diese Vorstellung prägt das europäische Denken. Ebenso ein positiver Individualismus, die Vorstellung, Einzelne können frei denken und selbstständig urteilen – unabhängig vom Kollektiv der Familie oder der Polis, die in der Antike eine viel größere Rolle spielten.

 

Allerdings sind mehr als ein Drittel der Menschen in Europa nicht oder nicht mehr christlich geprägt. Warum ist etwa die Grundrechtscharta der EU keine geeignete gemeinsame Basis für die Europäer? 

Die Grundrechtscharta der EU ist natürlich wichtig und verbindet uns. Sie ist aber genauso wie die Menschenrechte zunächst einfach nur ein Rechtstext. Er kann jederzeit mit einer politischen Mehrheit verändert werden. Die Frage ist: Worauf basiert er? Wie begründet er sich? Und was sind die Voraussetzungen dafür, dass eine solche Grundrechtscharta nicht nur einmal geschrieben worden ist, sondern dass ihr Geist sich über Generationen hinweg hält? Genauso ist es mit der Menschenwürde. Sie steht im Grundgesetz. Aber um diesen Wert mental zu verankern, braucht es Überzeugungen, die ihn tragen. Menschenwürde oder Menschenrechte werden sich nicht auf Dauer einfach nur dadurch halten, dass an sie appelliert wird. Und ich kenne keine überzeugende rein säkulare Begründung für die Menschenwürde.

 

Wie soll es konkret vor sich gehen, dass sich Europa aus dem Geist des christlichen Glaubens erneuert?
Das lässt sich nicht in einem Satz beantworten, denn wir sprechen dabei über einen größeren und vermutlich längeren kulturellen Prozess. Man kann ihn auch nicht an bestimmte Institutionen delegieren. Wir müssen die kulturellen Fundamente unseres Zusammenlebens in Europa neu durchdenken. Als Kulturträger sind wir da alle in unserem jeweiligen Lebens- und Arbeitsumfeld gefordert. Es geht darum, die christliche Tradition daraufhin zu befragen, welche Ressourcen und Inspirationen für die Gestaltung der europäischen Zukunft darin stecken. Das betrifft beispielsweise unser Verständnis von Freiheit oder von Bildung, aber auch das Selbstverständnis der Kirchen. Wir sollten ein Bewusstsein dafür schaffen, wie eine gemeinsame europäische Identität die Differenzen zwischen Ost und West in Europa überbrücken kann.

 

Welche Rolle sollten die Kirchen dabei spielen? 

Die Kirchen lassen sich zu sehr treiben von der empfundenen Notwendigkeit, zu tagesaktuellen Fragen etwas zu sagen. Sie sollten eher zu den grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens in unserer Zeit unter den Bedingungen einer modernen und nachmodernen Gesellschaft in den Diskurs gehen. Sie müssen sich nicht zu Details der Ukraine-Politik äußern; sie können grundsätzlich über Friedensethik sprechen. Die Kirchen haben Partner in allen Teilen Europas und könnten Foren schaffen, um über die kulturellen Spannungen zwischen Ost und West zu sprechen – und darüber, wie man sie lösen kann. Oder warum beginnen die Kirchen keine große Debatte über die Frage: Was heißt eigentlich heute Freiheit?

 

Was bedeutet sie aus christlicher Sicht für die Gesellschaft?
In unserer Gesellschaft ist das Verständnis weit verbreitet, dass Freiheit mir dazu dient, meine Bedürfnisse zu befriedigen. Luther formulierte, dass Christen einerseits überhaupt niemandem untertan sind und zugleich aber jedermann – wegen der Nächstenliebe als Maßstab für christliches Handeln. Aus dieser Perspektive könnte man sagen, die Freiheit des Einzelnen wird begrenzt durch die Bedürftigkeit des anderen. Diese Rückbindung von Freiheit an Verantwortung für andere und für die Gesellschaft wäre in diesem Sinn eine christliche Erneuerung des Freiheitsverständnisses.

 

Wo sehen Sie weitere Anknüpfungspunkte für diese Erneuerung?
In den vergangenen 200 Jahren hat sich in Europa die Vorstellung verbreitet, es gäbe einen Widerspruch zwischen modernem wissenschaftlichen Weltverstehen und dem Glauben an Gott. Das ist nicht der Fall. Und das sage ich nicht nur persönlich als Christ, das sage ich auch als Wissenschaftler. Wir müssen uns starker bewusst machen, dass wissenschaftliches Wissen erstens vorläufig und zweitens ein Modellwissen ist, mit dem wir nicht alles vollständig verstehen werden. Man kann zwar Gott nicht in die Wissenschaft einbauen als messbare Größe, aber als ein Bewusstsein für die Grenzen der wissenschaftlichen Möglichkeiten. Christen und ihre Kirchen sollten stärker mit den Wissenschaften ins Gespräch darüber kommen, wie man heute von Gott reden kann und inwiefern dies über die persönliche Glaubensfrage hinaus eine Bedeutung für unser Weltverständnis hat.

 

Was ist die Aufgabe des einzelnen Christen in der Sache?
Sie sollten sich zuerst Gedanken machen darüber, was ihre Anbindung an eine Kirche für sie in dem kulturellen Kontext, in dem wir heute leben, bedeutet. Christen könnten offener und klarer werden. Eine Studie zeigt, dass christliche Jugendliche viel defensiver sind als zum Beispiel muslimische Jugendliche – in dem Sinn, dass sie sich kaum trauen, sich als Christen zu äußern, und wenn, dann mit Vorbehalten. Das gibt es bei Erwachsenen genauso. Die erste Voraussetzung wäre also, dass Christen für sich selber mehr Klarheit darüber gewinnen, wie sie zu den Fragen unserer Zeit stehen, und sich bewusst als Christen in den Diskurs einbringen.

 

Was gibt Ihnen Hoffnung, dass sich Europa tatsächlich aus dem Geist des Christentums heraus erneuern wird?

Die Schwierigkeiten, die die ersten Christen hatten von der Entstehung des Christentums bis zur dominanten Religion im Römischen Reich, waren deutlich größer als die, die wir haben. Auch danach hat es in Europa viele Jahrhunderte gedauert, bis das Christentum sich tatsächlich überall verbreiten konnte. Gemessen daran sind unsere Ausgangsbedingungen heute doch komfortabel.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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© Wolfgang Sander