Wissen im kompetenzorientierten Unterricht – ein Konflikt in der deutschen Politikdidaktik

Dienstag, 12. Juli 2011

 

Nach vielen Jahren hat die deutsche Fachdiskussion zur politischen Bildung wieder einen offenen Konflikt. Ausgerechnet im Umfeld der Kompetenzorientierung ist es 2010/2011 zu einer zugespitzten Kontroverse gekommen; ausgerechnet, weil es doch nach dem Vorschlag der GPJE (der wissenschaftlichen Fachgesellschaft in der Didaktik der politischen Bildung) für kompetenzorientierte Bildungsstandards im Fach von 2004 so schien, als gebe es trotz mancher Differenzen im Detail über das grundlegende Aufgabenverständnis der politischen Bildung heute in der Wissenschaft eine sehr breite Übereinstimmung. An den Fragen, welches Wissen kompetenzorientierte politische Bildung vermitteln soll und wie man sich den entsprechenden Unterricht konkret vorzustellen hat, ist nun ein Konflikt aufgebrochen.
Anlass war eine gemeinsame Buchpublikation von fünf Autorinnen und Autoren, in der ein Wissensmodell für die politische Bildung vorgestellt und an einem Unterrichtsbeispiel konkretisiert wurde (Weißeno, Georg et al.: Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell. Schwalbach 2010). Dieses Buch löste bereits kurz nach Erscheinen heftige, teils empörte Reaktionen aus. Als Antwort erschien nun ebenfalls in Buchform eine von acht Autorinnen und Autoren verfasste Streitschrift, die kritisch und mit alternativen Vorschlägen auf dieses Buch reagiert (Autorengruppe Fachdidaktik: Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift. Schwalbach 2011). Beide Bücher sind auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.
Die Argumentationslogik bei Weißeno et al. lässt sich – selbstverständlich hier stark vereinfacht – so rekonstruieren: Politische Bildung stützt sich fachlich alleine auf die Politikwissenschaft (und nicht auf die anderen Sozialwissenschaften); aus dieser lässt sich „richtiges" Wissen in Form von „Fachkonzepten" gewinnen; dieses wird möglichen „Fehlkonzepten" (insbesondere bei Schülern), die es zu überwinden gilt, entgegengestellt; dieses richtige Wissen ist hierarchisch geordnet nach Basiskonzepten, Fachkonzepten und diese konstituierende Begriffen. Der Unterricht geht dann den umgekehrten Weg: Er vermittelt als „strukturierte Abfolge von Instruktionen" (Weißeno et al., 199) die konstituierenden Begriffe, durch die sich nach und nach das richtige Verständnis der Fach- und Basiskonzepte aufbauen soll. Die Themenstellung für Lernvorhaben im Unterricht wird im Wesentlichen durch die Vorgabe der zu lernenden Begriffe definiert (ebd, 198).
Was auf den ersten Blick, besonders für pädagogische Laien, als übersichtlich und plausibel erscheinen mag, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Rückfall hinter das Niveau didaktischen Denkens in der politischen Bildung, das in den letzten Jahrzehnten erreicht wurde. Schülervorstellungen über Gesellschaft und Politik kommen allenfalls als zu überwindende Fehlkonzepte in den Blick; dass diese Vorstellungen beispielsweise für die Themenfindung im Unterricht von entscheidender Bedeutung sein können, wird nicht gesehen. Dass es in der politischen Bildung meist um Fragen und Probleme geht, auf die es mehr als nur eine mögliche „richtige" Antwort gibt, dass guter Unterricht deshalb ergebnisoffen sein kann, spielt bei Weißeno et al. keine erkennbare Rolle. Dass schließlich kompetenzorientierte Standards sich auf den Umgang mit Problemen und die Bewältigung von anspruchsvollen Aufgaben beziehen müssen, scheint in einem Buch, das sich im Untertitel als „Kompetenzmodell" präsentiert, völlig aus dem Blick geraten zu sein – denn die von Weißeno et al. vorgeschlagenen „Mindeststandards" bestehen ausschließlich aus zu lernenden Begriffen.
Gegen solche Reduktionen, ja Umdeutungen der Kompetenzorientierung richtet sich die Kritik der Autorengruppe Fachdidaktik, zu der auch der Verfasser dieser Zeilen gehört. Das Buch von Weißeno et al. zeigt geradezu exemplarisch, wie die Kompetenzorientierung in einem technologisches Verständnis von Lehren und Lernen so lange uminterpretiert werden kann, bis ihre Innovationsimpulse gegenüber der vorherrschenden Schulkultur verschwunden sind. Was dann von der Kompetenzorientierung als einem ambitionierten Reformprojekt bliebe, wäre nicht viel mehr als alter Wein in neuen Schläuchen. Auch deshalb ist dieser Konflikt in der Didaktik der politischen Bildung von erheblicher Bedeutung für die politische Bildung – und durchaus auch über das Fach hinaus.

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© Wolfgang Sander